Die Flottille – der Tag danach

Der Tag danach. Zeit für mich, etwas aus dem gestrigen Nachrichtenchaos zusammenzufassen und ein paar Dinge noch mal darzustellen, soweit es mir möglich ist.

Solange die Flottille geplant wurde und unterwegs war, hielt sich die „große Presse“, vorsichtig ausgedrückt, vornehm zurück. Auch politische Unterstützung war kaum zu vernehmen. Auch dann nicht, als die Israelis mit Drohungen und einer massiven Desinformationskampagne begannen. Auf diese wurde ich vor allem aufmerksam, als auch auf meinem Twitter-account Nachrichten aufliefen, die auf Artikel verwiesen, die über die herrlichen Zustände in Gaza berichteten, die Organisatoren und Teilnehmer der Flottille verunglimpften, oder nur ganz einfach pöbelten.

Dieses Schweigen im Walde, das blogger, Alternativ-Medien und Twitterer nicht zu konterkarieren vermochten, hat möglicherweise den Israelis vorgegaukelt, das Schicksal der Flottille und ihrer Menschen würde die Weltöffentlichkeit mal wieder nicht weiter interessieren. Und so griffen sie sie im Morgengrauen (passend: zur Gebetszeit der Muslime) an. Ja, es ist ein Angriff, wenn bewaffnete Soldaten sich aus Helikoptern auf ein Schiff abseilen.

Ob diese dann zuerst geschossen haben oder ob die Menschen an Bord gleich versucht haben, sie zum Rückzug zu drängen, weiß ich nicht. Die Videos, die kursieren, könnten beide Versionen belegen. Aber die Passagiere und die Besatzung zu Angreifern zu erklären, widerspricht jeglichem Recht. Und somit stand den israelischen Soldaten KEIN Notwehrrecht zu, sie hätten auch dann nicht auf Menschen schießen dürfen.

Ein der Flottille gemachter Vorwurf wurde ständig wiederholt, warum die Ladung nicht über Israel nach Gaza gebracht wurde. Hört sich vernünftig an. Solange man nicht weiß, dass Israel eine Liste der Güter hat, die nach Gaza importiert werden darf  und nichts durchlässt, was da nicht drauf steht. Eine Menge der Dinge, die die Flottille transportiert, steht nicht drauf. Genau das war der Grund für diese Lieferung über den Seeweg. Das laut gemachte israelische Angebot, doch in Ashdod zu löschen, war eine Nebelaktion für Gutgläubige.

Ein zweiter Vorwurf richtet sich darauf, dass sich die Flottille angeblich geweigert habe, Post und Päckchen für den Gefangenen Shalit mitzunehmen. Auch so lange wiederholt, bis es für wahr gehalten wurde. Dazu eine Presseerklärung:

Israel claims that we refused to deliver a letter and package from POW Gilad Shalit’s father. This is a blatant lie. We were first contacted by lawyers representing Shalit’s family Wednesday evening, just hours before we were set to depart from Greece. Irish Senator Mark Daly (Kerry), one of 35 parliamentarians joining our flotilla, agreed to carry any letter and to attempt to deliver it to Shalit or, if that request was denied, deliver it to John Ging, Director of UNRWA in Gaza. He could deliver the letter for the Shalit family,. As of this writing, the lawyers have not responded to Sen. Daly, electing instead to attempt to smear us in the Israeli press.[5] We have always called for the release of all political prisoners in this conflict, including the 11,000 Palestinian political prisoners languishing in Israeli jails, among them hundreds of child prisoners.[6]

Das bedauere ich für die Familie Shalit.

Wer aber berechtigt Israel, Schiffe zu entern, aus internationalen Gewässern in einen israelischen Hafen zu schleppen, die Passagiere und Besatzungen zu inhaftieren? Das ist Kidnapping.

Seelische Grausamkeit ist es auch, die Namen der Toten und Verletzten sowie den Zustand der letzteren geheim zu halten. Auch heute scheint noch niemand etwas zu wissen. Lediglich die Jordan Times meldet, es liege Nachricht vor, dass alle jordanischen Staatsangehörigen, die an Bord waren, wohlauf seien.

Der Guardian berichtet über einige Passagiere, aber auch, dass über ihren Verbleib nichts bekannt sei. Gulfnews fragte gestern auch energisch nach ihrem Journalisten Al-Lawati, dessen tweets am frühen morgen plötzlich verstummten. Al-Jazeera scheint keine Verbindung zu ihrem Reporter zu haben.

Hinzu kommt, dass einige Passagiere an Bord der „Mavi Marmara“ wohl mehr gefährdet sind als andere. Vor allem israelische Staatsangehörige, wie die Abgeordnete der Knesset. Aber auch der bejahrte ehemalige Bischof von Jerusalem, dem ein mehrjähriger Aufenthalt in einem israelischen Gefängnis droht. Wie ich aus einem Artikel bei „Alles Schall und Rauch“ (lesenswert!) ersehe, hatten die Israelis ein ganzes Buch mit Informationen über einzelne Passagiere bei sich – warum wohl? Im Artikel wird eine Todesliste nicht für ausgeschlossen gehalten. Grund genug, diese Passagiere zu verteidigen?

Wie viel an Aufklärung möglich sein wird, kann nur die Zukunft zeigen. Genaues werden wir wohl nie wirklich wissen. Israel gibt sich mit seinen PR-Möglichkeiten alle Mühe, das Desaster so gut wie möglich schönzulügen.

Heute Morgen erreichte mich dieser Tweet:

  • Israel Global PRIsraelGlobalPR
  • You should be grateful that we let you get so far, it would have been no trouble to deal with things before the ships even departed #mossad

    Auch nett, und lässt doch tief blicken.

    Was wird weiter? Die Reaktionen sind leider meist nur die üblichen: man ist „schockiert“, „traurig“, „verurteilt“ – ich glaube, die Palästinenser können es nicht mehr hören. Wenige Ausnahmen  – mal sehen, was daraus wird. Die heftigsten Reaktionen kommen natürlich aus der Türkei, die auch die meisten Toten zu beklagen hat und bei Angriffen auf ein türkisches Schiff recht humorlos ist. Unter anderen ist zu lesen, dass man überlegt, solche Transporte in Zukunft von der türkischen Marine schützen zu lassen. Das würde Israel allerdings wirklich in eine schwierige Lage bringen.

    Eine Frage treibt mich aber zudem um: als Einzelpersonen Amerika angriffen, erklärte die NATO den Bündnisfall und damit rechtfertigte Deutschland sein Kooperation in Afghanistan. Gestern wurde ein Schiff eines NATO-Mitglieds von einer anderen Armee angegriffen. Was ist das dann?

    Ansonsten bleibt für den Moment nur eins: Die Blockade Gazas muss ein Ende haben! Freiheit für Gaza!

    Eine Antwort

    1. Kleine Verständnisfrage: Einerseits weiß man noch nichts über die Toten, andererseits haben die Türken die meisten Toten zu beklagen? Oder hab ich da was überlesen?

      Ich denke der erste Schritt beim „wie weiter“ ist eine konstruktive Selbstkritik. Warum kann Israel mit seiner Propaganda so gut landen? Weil – nach meiner Meinung – Defizite in Durchführung und wohl ach bei der Pressearbeit der Aktion da waren.

      Zur Durchführung: Ich will mich nicht lange wiederholen. Mir geht es um die Gewaltlosigkeit. Mir geht es nicht darum, ob es verständlich ist, wenn sich die Passagiere des türkischen Schiffs wehren. Verständlich ist es. Aber nicht öffentlichkeitswirksam. Und darum geht es letztendlich, die Öffentlichkeit zu erreichen und in der öffentlichen Meinung ein Umdenken zu bewirken. Ich erlebe es bisher so, daß da eben zwei Gruppen wahrgenommen werden: Pro Israel und Pro Palästina. Beide werden als militant und gewaltbereit wahrgenommen. Aber wer will schon in einem Kampf für eine Seite Partei ergreifen, wenn beide mit gleichen Mitteln kämpfen?

      Man muß der Schwächere sein, um in der öffentlichen Meinung der Stärkere zu sein. Dazu gehört auch die Absage an alle Gewalt oder Kontakt zu Gruppen, die Gewalt rechtfertigen. Ansonsten zieht der Terrorismusvorwurf immer wieder, egal wie viele Bischöfe an Bord sind, denen man sonst weniger Terrorismus vorwirft (zumindest hierzuland).

      Jetzt hab ich das doch länger ausgeführt, als ich wollte.

      Das andere Defizit ist die Öffentlichkeitsarbeit. Klar, Israels Regierung ist da eingespielter. Aber ein Beispiel: Ich habe gestern irgendwo in den Nachrichten die EU Außenministerin Ashton sagen hören, daß der Zustand der Menschen in Gaza eben nicht gut ist, daß sie nicht gut versorgt sind, und daß sie es mit eigenen Augen gesehen hat.
      So etwas steht natürlich in keiner offiziellen Erklärung. Aber gesagt hat sie es, und sie ist für viele Menschen im Westen glaubhafter, als wenn Pro Palästina Organisationen das sagen. Ganz einfach, weil sie kein Interesse daran hat, die Lage in Gaza als schlechter darzustellen, als sie ist. Pro Palästina Organisationen würden aber davon profitieren, wenn sie die Lage schlechter darstellten (ich sage nicht, daß sie es tun, ich sage nur sie sind als Quelle nicht so überzeugend wie Ashton).
      Nun hätte solch eine Aussage im Fernsehen mitgeschnitten und bei youtube eingestellt werden können. Ich habe danach gesucht (ich wollt in meinem Blog nen Link setzen), und nichts gefunden. Ich habe auch die technische Kenntnis nicht, wie man so etwas macht.

      Auch die Sache mit den Päckchen für Shalit ist sowas. Da darf man nicht nur den Anwalt anrufen und Bescheid sagen, sondern man muß gleich eine Pressekonferenz geben: Familie Shalit hat uns kontaktiert, natürlich helfen wir gerne, soweit wir können etc.
      Die Zahl der politischen Gefangenen in Israel zu nennen ist dann schon wieder so eine Sache. Denn das kommt rechthaberisch rüber, im Sinne von: Übrigens ist Israel viel schlimmer. Diese Schlußfolgerung kann man nicht für die Zuschauer ziehen. Das muß man denen überlassen. Tut man es nicht, stößt man sie ab, weil sie das Gefühl bekommen, man wolle ihnen eine Meinung aufdrängen.

      Auf die Zahl der Gefangenen hinzuweisen, muß man an anderer Stelle, bei anderen Gelegenheiten machen. Und um Gottes Willen nie den Eindruck erwecken, man stehe auf der Seite von Palästina und Hamas.
      Ich denke, man darf Israel nicht als Feind begreifen, sondern als verstockten Freund, dem man helfen will, die Wahrheit zu erkennen. Und so muß man dann auch handeln. Und immer einen Schritt weiterdenken, so daß man nicht reagieren muß auf die Propaganda Israels, sondern agieren kann und Israel reagieren muß. Das gilt nicht nur für den Brief an Shalit.

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